Silents Sideview #4: WWE und AEW – war 2021 das Jahr, in dem der Wechsel eingeleitet wurde? Oder ist schon die Frage falsch gestellt?

29.12.21, von Benjamin "Cruncher" Jung

In der Kolumne „Silents Sideview“ blickt unser Teammitglied und Podcaster Silentpfluecker (aka Andreas) in unregelmäßigen Abständen auf aktuelle Themen des Mainstreamwrestlings aus den USA. Anders als sonst bei unseren News stehen in dieser Kolumne subjektive Eindrücke im Vordergrund.

Es ist eine Frage, die viele Wrestlingfans eigentlich nicht stellen und schon gar nicht (mehr) darüber diskutieren wollen: WWE oder AEW?
Daher soll es in diesem kurzen Jahresrückblick auch nicht darum gehen, ob im Jahr 2021 die eine oder die andere Promotion „besser“ war als die andere. Thema soll allerdings schon die Frage sein, was im vergangenen Jahr passiert ist und was dies möglicherweise für das kommende Jahr in Bezug auf beide Ligen bedeuten könnte.

Natürlich ist schon die in der Überschrift aufgeworfene Frage reißerisch, touché. Man kann sie so oder so ähnlich nach jeder gelungenen AEW-Show, nach jedem Debüt eines neuen Workers bei All Elite Wrestling oder nach einer schwächeren Show von WWE stellen – und sie wird auch entsprechend häufig gestellt. Warum werfe ich diese abgegriffene Frage dann gleichwohl auch hier wieder auf? Weil ich eben denke, dass im Jahr 2021 doch einiges geschehen ist, dem grundlegende Bedeutung beigemessen und was als Fingerzeig in die Zukunft interpretiert werden könnte.

So wurden in den vergangenen zwölf Monaten aus meiner Sicht zwei ganz wesentliche Unterschiede zwischen WWE einerseits und AEW andererseits deutlich: Zum einen die Ausrichtung und das Selbstverständnis des angebotenen Produkts (sprich: der Inhalt und die Inszenierung der Shows), zum anderen die Firmenpolicy, insbesondere die Art und Weise des Umgangs mit dem Personal der Company.

In Bezug auf den ersten Punkt, also das Produkt als solches, liegen Welten zwischen beiden Ligen. Man kann es, wenn man will, wohl mit der freilich etwas platten Differenzierung zwischen „Sports Entertainment“ (WWE) und Professional Wrestling“ (AEW) auf den Punkt bringen. Auch wir sind in den Podcasts das eine oder andere Mal dieser Versuchung erlegen. Was verbirgt sich hinter diesen Schlagworten? Zunächst gehen beide Ligen, wie jede Wrestlingpromotion, von der gleichen Ausgangslage aus. Das bedeutet: ein Ring, zwei, vier oder mehrere Talente, die dort die Inszenierung eines Kampfes vorführen, sowie mehr oder weniger interessante oder peinliche Geschichten drumherum. So weit, so gut.
In den Details liegen dann aber doch riesige Unterschiede. Während bei WWE eindeutig der Aspekt der spektakulären Inszenierung im Vordergrund steht, die Shows nicht selten kurz vor Beginn noch spontan umgeschrieben werden, so dass konsequentes Storytelling gar nicht möglich ist, setzt man bei AEW auf „Nachhaltigkeit“ (ein fast schon abgegriffenes Wort, ich weiß) und Longtermstorytelling mit einem Pay Off am Ende der Geschichte. Das ist nach meinem Dafürhalten DER große Unterschied (die Qualität des Wrestlings selbst ist in beiden Ligen sehr hoch, wenngleich AEW aus meiner Sicht hier am Ende doch die Nase vorn hat).
Man wird schwerlich sagen können, dass das eine oder das andere besser ist. Das liegt stets im Auge des Betrachters. Will man eine Show um der Show willen, will man sich berieseln lassen, will man Action und Unterhaltung, ohne großen Aufwand dafür zu betreiben? Dann ist WWE auch im Jahr 2021 absolut passend gewesen und wird auch im Jahr 2022 passen. Oder möchte man Geschichten, die langfristig erzählt werden, will man Entwicklung in den Charakteren, die sich eben nicht alle paar Wochen ohne eine Erklärung ändern? Dann ist man bei AEW richtig und wird es auch in 2022 sein.
Wrestling also solches hat nur beschränkte Möglichkeiten, eine tiefergehende Geschichte zu erzählen. Am Ende muss es immer mit einer Auseinandersetzung im Ring enden, die natürlich auch im Vordergrund steht, sogar stehen muss. Aber die Inszenierung, die Geschichte drumherum, das ist es, was diese Auseinandersetzung spannend macht. Hier hat 2021 zumindest angedeutet, dass die Art des Storytellings bei AEW auch beim Mainstreampublikum in 2022 erfolgreicher sein könnte, als die Art der Showinszenierung bei WWE. Zu oft liest man im Netz in Bezug auf Marktführer davon, dass sich die Fans „verarscht“ vorkommen, dass ihre „Intelligenz beleidigt“ werde, dass am Ende „der Pay off“ fehle.

Noch deutlicher (und nach meinem Dafürhalten vielleicht sogar entscheidender) sind die Unterschiede in Bezug auf die Firmenpolicy. Hier hat die Corona-Pandemie in 2021 vieles sehr deutlich gemacht.
WWE ist ein Unternehmen, welches (zumindest nach allem, was man in den öffentlich zugänglichen Quellen so lesen kann) den finanziellen Gewinn nicht nur an die erste Stelle setzt (was so ziemlich jedes Unternehmen tun würde), sondern auch ihr Personal als (im wahrsten Sinne des Wortes) Human Capital ansieht. Worker werden mal mit überzogenen Verträgen versehen und mit Geld quasi zugeschüttet (so in 2019), dann wieder in null Komma nix entlassen (2020 und 2021). Der Grund dafür ist ebenso einfach wie nachvollziehbar: Weil man bei WWE meint, dass mal dies, mal das der wirtschaftlich beste Weg für die Company ist. Die viel zitierte „menschliche Verantwortung für das Personal“ interpretiert man bei WWE also allem Anschein nach völlig anders als bei AEW. Bei WWE heuert und feuert man die Worker, wie es wirtschaftlich gerade passt (Kündigungsschutzklauseln jenseits der diskussionswürdigen 90-Tages-Klausel sind Vince McMahon ein Greuel), bei AEW stellt man die Worker ein und gibt ihnen einen Vertrag mit einer festen Laufzeit.
Wie sich so etwas auswirkt, hat man in den Zeiten der Pandemie gesehen: Sowohl in 2020 als auch in 2021 hat man ausweislich der verfügbaren Quellen bei WWE während Corona die Worker in Zwölferreihen gefeuert, bei AEW nicht einen einzigen, der unverschuldet wegen Corona nicht auftreten konnte. Das sagt einiges.
Was noch mehr sagt, ist der Fakt, dass bei WWE offenbar keine einzige Entlassung notwendig war. Man verdient aufgrund der TV-Verträge, der Saudi-Shows, des Peacock-Deals etc. wohl so viel Geld wie noch nie. Die Entlassungen dienen demnach allem Anschein nach lediglich dem Zweck, die Bilanzen besser aussehen zu lassen (wofür auch immer).
Dass man Worker entlässt, ohne dass es offenbar eine wirtschaftliche Notwendigkeit dafür gibt, ist eine Sache. Dies dann auch noch zum Gegenstand der TV-Shows zu machen (Vince sagte jüngst bei „Monday Night RAW“, dass es ihm ein „warmes Gefühl“ geben würde, Leute zu entlassen), ist aufgrund der beruflichen Konsequenzen der Worker in Zeiten der Pandemie eine andere…
Natürlich, es ist immer leicht, den selbstgefälligen und heuchlerischen Moralapostel zu spielen und sich entsprechend zu empören und darin zu sonnen. Davor sollte man sich stets hüten. Aber es ist vielleicht auch nicht völlig verkehrt, die Fakten einmal zur Kenntnis zu nehmen, auf sich wirken zu lassen und nicht mit den Plattitüden „Die Welt ist eben gemein“ oder „So funktioniert der Kapitalismus nun einmal, was würdet ihr denn machen?“ abzutun.

Heutzutage (wieder so ein fürchterliches Wort) ist jede Meldung schon nach einigen Stunden veraltet und vergessen. Wenn man aber zum Jahreswechsel schon spießig und pseudobesinnlich das Innehalten und Sich-Besinnen zelebriert, dann ließe sich vielleicht auch über die Policy von WWE und AEW nachdenken.

Was das kommende Jahr bringen wird, weiß natürlich niemand. Auch steht völlig in den Sternen, ob das Jahr 2021 wirklich irgendeine „Wurzel für den Wechsel“ gewesen ist oder ob es darauf überhaut ankommt. Fakt ist allerdings, dass 2021 viele Unterschiede zwischen WWE und AEW offenbart hat. Was dies für 2022 bedeuten wird, darüber können und werden nur die Fans entscheiden. Man darf gespannt sein.

EUCH ALLEN AUF JEDEN FALL EINEN GUTEN RUTSCH SOWIE EIN FROHES UND GESUNDES NEUES JAHR 2022.

So long.

PEACE AND LOVE

Silent


Vergangene Ausgaben der Kolumne findet ihr hier:
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Neben dieser Kolumne bespricht Silent zusammen mit Chr!s jede Woche das aktuelle Geschehen in der Wrestlingwelt im „W-IPin Wrestling Weekly“ Wochenrückblick-Podcast hier auf dieser Seite. Hört bei Interesse gerne rein. Finden könnt ihr alle Podcasts hier:
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Und wenn ihr Kritik oder Fragen zur Kolumne oder zum Rest der Welt habt, dann schreibt gerne eine E-Mail an folgende Adresse: andreas.s@wrestling-infos.de




10 Antworten auf „Silents Sideview #4: WWE und AEW – war 2021 das Jahr, in dem der Wechsel eingeleitet wurde? Oder ist schon die Frage falsch gestellt?“

Joe Sanchez sagt:

Die Folgen der Firmen Policy der Umgang mit dem Tod von Brodie Lee. Bei WWE undenkbar. Folgen Verpflichtung von Top Wrestler, Owen Hart Tunier. Viel vertrauen.

Folgen der Wrestlingausrichtung AEW bekommen die Undisputed Era auf dem Silbertablet.

Guter Kommentar.

Worthless sagt:

Ich behaupte mal, dass wenn etwas / jemand von den Geschehnissen der großen Ligen profiiert hat, dann war es definitiv die Independent Szene. Jeder Wrestler der zu WWE oder AEW in den letzten 2 Jahren wechselte / dazu kam oder entlassen wurde hat Aufmerksamkeit den Independent Ligen (allen voran jedes Ligenboss‘ Lieblingsliga GCW) beschert. So viel Aufmerksamkeit, dass mitlerweile bei Shows von allen möglichen Kleinligen mehr Zuschauer zugegen haben als jede Impact und ROH Show 2021. Und das ist etwas tolles und deshalb dafür danke AEW und WWE, dass ihr euch immer streitet usw. 🙂

Guten Rutsch ins 2022 euch allen übrigens.

Lobo sagt:

Volle Zustimmung zum Artikel. Ich denke die größten Profiteure der Konkurrenzsituation sind doch immer noch wir Fans, da wir im freien Fernsehen oder Internet beide großen Ligen verfolgen können und uns das anschauen können, was uns am besten gefällt. Die einen lieben halt mehr das Entertainment mit dem Drumherum und die anderen stehen halt mehr auf das klassische Longtermstorytelling. Das gute ist…beide Geschmäcker werden bedient. Hoffen wir, dass das auch noch länger so bleibt.

packagepiledriver sagt:

Warum sollte Vinnie 2022 irgendetwas an seiner Politik ändern?
Er hat doch finanziell die größten Deals an Land gezogen.
Der Sport an sich steht nur noch als Randnotiz auf seiner Agenda.
Das merk man ja auch an den Kommentaren zu den WWE Shows, die seit einiger Zeit zum Hartz4 Entertainment abgedriftet sind.

Viel schlimmer finde ich unter den Kommentaren aber, das man beschissene WWE Shows mit massig Kommentaren zumüllt und dagegen Ligen wie NJPW nicht wirklich beachtung finden, obwohl sie das beste Wrestling von Allen bieten.

zerebrat 108 sagt:

@ packagepiledriver
es ist doch aber immer so.wenn leute zufrieden sind,schreiben sie selten rezessionen.
meistens sind es doch dann negative kommentare und das ist nicht nur hier beim wrestling so,sondern überall.

Y2Jerricholic sagt:

Konsequentes Storytelling und Nachhaltigkeit zeigt WWE eigentlich nur bei der Reigns / Lesnar Fehde und hat es vielleicht noch bei Rollins / Edge gezeigt. Beides ist für die WWE in 2021 eher untypisch.
Fand bei WWE bis auf WM 37, MitB und, verrückterweise mein WWE Favorit in 2021, Crown Jewel keinen PPV wirklich überzeugend.

Aber bevor jetzt welche loslegen, jaaa bei AEW fand ich nur Double Or Nothing, Full Gear und All Out richtig stark.
Dennoch holt mich das Produkt von AEW einfach sehr viel mehr ab seit 2019. Bin aber auch schon älter un in den späten 80ern wurde halt auch über viele Monate eine WWF Fehde nachhaltig erzählt. Genauso gab sich der Champ da auch nur selten im Ring, aktiv die Ehre bei einer „normalen“ Show.
Von daher hat mich auch noch nie der Part Time Champ Lesnar gestört, weil ich es so durch Hulk kennengelernt habe.

Lobo sagt:

@Y2Jericholic…damals gab es in der Wochenshow auch praktisch nie Matches zwischen den Stars sondern immer nur ein Star gegen einen Jobber…sage nur Barry Horrowitz.

Y2Jerricholic sagt:

Jupp und Duane Gill, Brooklyn Brawler und „Iron“ Mike Sharpe fallen mir da auch noch spontan ein.
Da hat man die Talente halt mit reinen Squash Matches „over“ gebracht bis dann endlich Rude auf Roberts traf. Heute werden dafür die eigenen „Stars“ wie Ricochet verpulvert…

Y2Jerricholic sagt:

Jupp und Duane Gill, Brooklyn Brawler und „Iron“ Mike Sharpe fallen mir da auch noch spontan ein.
Da hat man die Talente halt mit reinen Squash Matches „over“ gebracht bis dann endlich Rude auf Roberts traf. Heute werden dafür die eigenen „Stars“ wie Ricochet verpulvert…

Bobkurosaki sagt:

Passende Worte zum Jahresende.Ich finde auch es auch moralisch hõchst verwerflich was bei WWE mit den Workern gemacht wird. Auch das Storytelling hat meiner Meinung nach sehr nachgelassen. Ich bin so froh das AEW es zu dieser Größe geschafft hat und hoffe dass diese Liga so weiter macht wie bisher, auch wenn dort auch nicht alles Gold ist was glänzt.Aber dich AEW habe ich wieder richtig Bock auf Wrestling.

Und ihr macht bitte genauso weiter mit euren Berichten und Podcasts.Es ist immer eine Freude euch zuzuhören beim diskutieren und philosophieren.In dem Sinne: einen guten Rutsch ins neue Jahr.Euer Bob

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